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Märzgefallene - Volker Kutscher

Gut recherchierte Bücher über die deutsche NS-Vergangenheit gibt es genauso viele wie handwerklich solide gearbeitete Kriminalromane. Meistens sind erster zwar sehr lehrreich und anspruchsvoll aber nur mäßig unterhaltsam. Letzter sind dagegen meist sehr spannend, aber in der Regel leider auch eher trivial. Die Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher vereint aus beidem das Beste, nämlich Anspruch und spannende Unterhaltung.

Im aktuellen fünften Band wartet auf Kriminalkommissar Gereon Rath nicht nur wieder eine neue Mordreihe, die ihn diesmal zurück ins Kriegsjahr 1917 führt. Auch der dramatische politische Umbruch des Jahres 1933 macht Charly und ihm beruflich wie privat zu schaffen.

Worum geht es?

Rosenmontag 1933. Als gebürtiger Rheinländer verbringt Gereon Rath die tollen Tage natürlich in der alten Heimat, wo er sich volltrunken einen außerehelichen Fehltritt erlaubt. Viel Zeit für ein schlechtes Gewissen bleibt ihm jedoch nicht, denn dann brennt in Berlin plötzlich der Reichstag, und Rath wird sofort zurück beordert. Allgemeine Urlaubssperre.

Etwa zur gleichen Zeit wird am Nollendorfplatz ein Obdachloser erstochen aufgefunden. Gereon Rath erbt diesen Fall von seinen Vorgesetzten Wilhelm Böhm, der beim neuen Nazi-Polizeipräsident in Ungnade gefallen ist und strafversetzt wird. Schnell geschehen weitere Morde nach dem gleichen Muster. Zum Glück gibt Leutant a.D. Achim von Roddeck wichtige Hinweise: Die Spur führt weit zurück in die Wirren des ersten Weltkriegs, als im März 1917 einige Soldaten der „Operation Alberich“, die beim Rückzug der deutschen Armee aus Frankreich nichts als verbrannte Erde zurückließen, die Goldreserven einer französischen Bank unterschlugen. Aber wie glaubhaft ist Achim von Roddeck wirklich? Geht es ihm am Ende vielleicht nur darum, sich wichtig zu machen, um seinen in Kürze erscheinenden Roman „Märzgefallene“, der von genau diesen Ereignissen berichtet, zu bewerben?

Die Ermittlungen gestalten sich für Gereon Rath äußert schwierig, denn ständig funkt ihm etwas anderes dazwischen: da wären zum einen die Hochzeitsvorbereitungen und zum anderen seine Abordnung zur Politischen Polizei, für die er Kommunisten zum Reichstagsbrand verhören soll. Zu allem Überfluss beauftragt Gangsterboss Johann Marlow Rath schließlich auch noch, einen Bandchef aus den Klauen der SA zu befreien. Und auch der Polizeipräsident macht Druck und will endlich Ergebnisse sehen.

Warum habe ich es gelesen?

MärzgefalleneSeit Gereon Raths erstem Fall „Der nasse Fisch“ verfolge ich diese Krimiserie von Volker Kutscher. Die tolle Kombination aus historischen Tatsachen und fiktiver Kriminalgeschichte begeisterte mich sofort. Auf diesen fünften Fall habe ich mich vor allem deshalb besonders gefreut, weil „wir“ nun endlich im Jahr 1933 und damit bei der Machtergreifung Hitlers angekommen sind. Ich war schon sehr gespannt, wie die einzelnen Charaktere, die ich in den ersten vier Bänden bereits gut kennenlernen konnte, auf diese politischen Entwicklungen reagieren würden. Bei einigen Figuren zeichnete sich bereits im Vorfeld ab, dass sie zumindest ihre Probleme mit der Anpassung an die neuen Verhältnisse haben würden. Umso neugieriger war ich daher, ob und wie ihnen dies gelingen würde.

Wie war mein erster Eindruck?

Das Buch ist in drei Teile unterteilt, die jeweils einen bestimmten Zeitabschnitt umfassen. Neu ist jedoch, dass die Abschnitte nun Überschriften haben: „Feuer“, „Rauch“ und „Asche“. Zudem ist jedem Teil ein Auszug aus einem Konversationslexikon vorangestellt, in dem der entsprechende Begriff beschrieben wird. Dies und der metaphorische Bezug zum jeweiligen Inhalt gefielen mir gut.

Mit dem Fund der ersten Leiche und Gereon Raths One Night Stand geht es inhaltlich gleich spannend los. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, vollkommen unvermittelt in den Fall geworfen zu werden. Wie gewohnt lässt sich Volker Kutscher Zeit, um die Geschichte solide zu entwerfen und zunächst einmal die Stimmung jener Tage einzufangen. Hierdurch entsteht beim Leser ein atmosphärisch dichtes Bild.

Am besten gefiel mir jedoch, wie geschickt Volker Kutscher den Brand des Berliner Reichstags gleich zu Beginn verarbeitet. Hierzu bedient er sich der Figur des Journalisten Weinert, der treuen Lesern bereits aus den vorherigen Bänden bekannt ist und zufällig als einer der ersten vor Ort ist. Aber auch Charly kommt hierzu zu Wort. Dieses historische Ereignis, über das man sonst nur relativ nüchtern in Geschichtsbüchern liest, quasi aus erster Hand von bereits bekannten und vertrauten Figuren erzählt zu bekommen, machte es für mich wesentlich anschaulicher. Ich bin froh, dass es ihm mehr als nur den Zeitungsartikel dazu wert war, den Gereon Rath hierüber am nächsten Morgen in Köln liest.

Wie fand ich die Erzählweise?

Der Roman ist wie von der Serie gewohnt in der dritten Person verfasst. Der Erzähler ist dennoch weder neutral noch gibt er einen objektiven Überblick über das Geschehen, sondern nimmt in jedem Kapitel den Standpunkt einer anderen Figur ein. So erhält man Einblick in verschiedene Gefühlswelten, lernt unterschiedliche Absichten und Ziele kennen. Dieser Wissensvorsprung des Lesers gegenüber den einzelnen Handelnden erhöht schließlich zur Spannung.

Aber auch der geschickte Wechsel der Erzählperspektiven erzeugt Spannung. Häufig endet ein Kapitel mit einem Höhepunkt, der nicht sofort im darauffolgenden aufgelöst wird. Stattdessen greift Volker Kutscher einen anderen Handlungsstrang wieder auf und erzählt zunächst diesen weiter. So entstehen immer wieder kleine Cliffhanger, die es mir schwer machten, das Buch lange Zeit aus der Hand zu legen.

Mir gefällt diese Art des Erzählens gut; auch wenn es bisweilen anstrengend ist. Sie erfordert eine gute Aufmerksamkeit, um bei den vielen Perspektivenwechseln und mehreren Handlungssträngen nicht den Überblick zu verlieren. Durch die vielen Nebencharaktere und –handlungen fiel mir dies bei „Märzgefallene“ bisweilen etwas schwer.

Wie fand ich den Schluss?

Volker Kutscher konstruiert in „Märzgefallene“ einen komplexen Kriminalfall mit vielen Verwicklungen und einer brisanten Vorgeschichte. Dennoch werden am Schluss sämtliche Fäden entwirrt und es bleiben keine Fragen offen. Kutscher schafft es sogar noch, mit einer neuen Wendung zu überraschen, was mir sehr gefiel.

Nur was das Privatleben von Gereon und Charly betrifft war mir das Ende dann doch etwas zu perfekt und klischeehaft geraten. Vor allem Charlys Zukunftsaussichten, die sich gegen Ende des Buches abzeichnen, gefielen mir gar nicht.

Wie fand ich das Buch insgesamt?

Märzgefallene CoverMit „Märzgefallene“ gelingt Volker Kutscher wieder ein spannender und komplexer Kriminalroman vor dem Hintergrund eines wichtigen Stücks deutscher Geschichte.

Geschick verknüpft er historische Tatsachen wie z.B. den Brand des Deutschen Reichstags oder die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz mit einer fiktiven Mordserie. Dass die Spur diesmal auch noch in das Kriegsjahr 1917 zurückführt, fügt dem Roman eine weitere spannende historischer Ebene hinzu. Dabei stellt „Märzgefallene“ u.a. auch sehr gekonnt dar, wie gegenwärtig der Schrecken und die Folgen des Krieges nach 15 Jahren in der deutschen Bevölkerung noch immer sind.

Die eigentliche Stärke von „Märzgefallene“ liegt für mich jedoch in der anschaulichen Darstellung, was die Machtergreifung der Nazis einerseits für die Arbeit der (Berliner) Polizei sowie andererseits für die einzelnen Charaktere dieser Buchreihe persönlich bedeutete.

So wird auch Gereon Rath kurzfristig zur Politischen Polizei abgeordnet, wo er Kommunisten verhören soll, denen im Zusammenhang mit dem Feuer im Reichstag Brandstiftung vorgeworfen wird. Dabei wird selbst dem politisch uninteressierten Kommissar schnell klar, dass es sich hierbei um eine bloße Schikane handelt, um möglichst viele bekannte Kommunisten an der anstehenden Wahl zu hindern. Auch als einmittlerweile konvertierter Jude als Mörder unter Tatverdacht gerät, nimmt der neue NSDAP-Polizeipräsident dies dankbar zum Anlass, um die allgemeine Judenhetze weiter anzufeuern.

Da wundert es kaum, dass Gereon Rath mit seinen Ermittlungen zeitweise auf der Stelle zu treten scheint. Teilweise tritt der Kriminalfall in „Märzgefallene“ sogar vollkommen in den Hintergrund. Dies verzieh ich Volker Kutscher jedoch gerne. Viel zu interessant und spannend sind alle die persönlichen Reaktionen, Einschätzungen und zum Teil auch unerwarteten Folgen, die sich für die einzelnen Charaktere durch den dramatischen politischen Umbruch ergeben.

So erlebt man den Wandel der Polizeiarbeit in Nazi-Deutschland und die verschiedenen persönlichen Konsequenzen, die daraus gezogen werden, auf eine sehr kurzweilige und unterhaltsame Art. Angenehmer Weise wird in „Märzgefallene“ weder der moralische Zeigefinger erhoben noch hat man das Gefühl, an ein allzu belehrendes Geschichtsbuch geraten zu sein.

Volker Kutscher überlässt es dem Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen (oder auch nicht), was mir sehr zusagt. So beweist Volker Kutscher mit „Märzgefallene“ wieder einmal, dass auch anspruchsvollere Kriminalromane möglich sind und Erfolg haben können.

Die Spur des Bienenfressers - Nii Ayikwei Parkes, Uta Goridis

Die Lesung im Weltempfänger-Salon machte mich neugierig auf dieses Buch. Daher „subbte“ es dann auch nicht lange. Leider hielt das Buch dann aber doch ganz, was ich erwartet hatte. Dass es kein klassischer Kriminalroman ist, war mir klar. Aber vor allem vom Aufbau des Buchs wurde während der Lesung ein vollkommen falscher Eindruck vermittelt. Auch das Ende fand ich etwas schwach.
Pluspunkte sammelt das Buch aber für die gute Darstellung der Verhältnisse im heutigen Ghana: der Unterschied zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die Korruption und Willkür der Staatsmacht sind gut gezeichnet. 

Worum geht es?

In Sonokrom, irgendwo im ghanaischen Hinterland, werden nach dem Verschwinden eines Dorfbewohners menschliche Überreste gefunden. Eigentlich würde das Dorf die Angelegenheit gerne selbst regeln, aber ausgerechnet die Geliebte des Ministers machte den Fund. Deshalb wimmelt es in Sonokrom bald von Polizisten. Da diese aber nicht so richtig weiterkommt, wird Kayo – in Großbritannien ausgebildeter Forensiker – hinzugezogen. Er soll mit den westlichen Methoden der Wissenschaft nach der Wahrheit suchen und einen Bericht zum Tathergang mit handfesten Beweisen liefern. Aber die Dorfbewohner selbst haben einen ganz eigenen, sehr viel mystischeren Erklärungsansatz.

Warum habe ich es gelesen?

Die Lesung von Nii Ayikwei Parkes im Weltempfänger-Salon, über die ich >>hier<< bereits berichtete, machte mich neugierig auf dieses Buch. Mich interessierte vor allem die gleichberechtigte Gegenüberstellung von westlicher Wissenschaft und Logik (verkörpert durch Forensiker Kayo) und afrikanischer Mythologie (verkörpert durch die Dorfbewohner). Dass es kein Kriminalroman im klassischen Sinne sein würde, ahnte ich bereits. Dennoch erwartete ich eine intelligente und spannende Auseinandersetzung mit den beiden unterschiedlichen Denkweisen und den feinsinnigen, schelmischen Humor, den ich bereits während der Lesung von Nii Parkes aufblitzen sah.

Wie war mein erster Eindruck?

„Die Spur des Bienenfressers“ ist aus zwei unterschiedlichen Perspektiven geschrieben. Im ersten Kapitel erzählt einer der Dorfbewohner, wie die Polizei nach Sonokrom kam. Seine Teile sind in der Ich-Perspektive geschrieben. Hier wird sehr schnell deutlich, dass in Sonokrom die Uhren anders schlagen. Man lebt von und mit der Natur. Besonders schön fand ich, das Erstaunen des Dorfbewohners über die wissenschaftlichen Geräte, mit denen die Polizei den Tatort untersucht. In den Augen der Dorfbewohner wird dies zu teuflischem Zauberwerk. Herrlich!

Im zweiten Kapitel lernt der Leser dann Kayo kennen. Er lebt Accra und führt ein vollkommen anderes Leben. Auch die Erzählperspektive wechselt nun zu einem auktorialen Erzähler. Hierdurch wird der Kontrast zwischen beiden Protagonisten auf subtile Art und Weise verstärkt.

Wie fand ich die Sprache?

Die Kapitel aus der Sicht des Dorfbewohners fand ich schwierig zu lesen. Er schweift leicht ab und erzählt langwierig und umständlich mit vielen Einschüben. Die anderen Kapitel, in denen es um Kayo geht, fand ich leichter zu lesen. Sie sind wesentlich strukturierter erzählt. Besonders gut gefiel mir der leicht sarkastische, fein ironische Unterton, der an einigen Stellen durch eine Überzeichnung der beschriebenen Situationen und Personen entsteht. Nii Parkes beweist hier den feinsinnigen, schelmischen Humor, den ich auch schon auf der Lesung bemerkte. Mir machte das sehr viel Spaß.

Schön fand ich auch, dass es auch bei „Die Spur des Bienenfressers“ einen Anhang mit Worterklärungen gibt, in dem hauptsächlich ghanaische Speisen und Gerichte erläutert werden.

Wie fand ich die Charaktere?

Nii Parkes entwirft fein gezeichnete, fein ausdifferenzierte Charaktere. Er gibt ihnen jeweils eine individuelle Vergangenheit, die weit über die eigentliche Handlung hinaus geht, und entwickelt hieraus ganz eigene Handlungsmotive. Hierdurch kann man sich gut in die Figuren hineinversetzen.

Auch dass einige ganz bewusst etwas überzeichnet sind, hatte für mich seinen Reiz, denn es ist wohldosiert und so gekannt angebracht, dass es nicht albern wirkt. Vielmehr ist hierin eine sehr feinsinnige Form von Gesellschaftskritik zuerkennen.

Wie fand ich den Schluss?

Über den Schluss war ich etwas enttäuscht. Leider führt Nii Parkes nicht beide Lösungsansätze konsequent zu Ende. So führt am Schluss nur eine der beiden Denkweisen zu einer Lösung des Falls. Mir hätte es besser gefallen, wenn auch am Ende zwei verschiedene Erklärungen nebeneinander gestanden hätten.

Wie fand ich das Buch insgesamt?

Auch wenn auf dem Cover „Kriminalroman“ steht, passt „Die Spur des Bienenfressers“ nicht so ganz in dieses Genre. Im Mittelpunkt steht nicht die Frage „Wer ist der Mörder?“. Kayo widmet sich vielmehr der Frage, ob überhaupt etwas gestorben ist (und wenn ja, was). Viel Zeit verwendet Nii Parkes auch darauf, wie Kayo eigentlich dazu kommt, für die Polizei zu arbeiten.
Dass der Kriminalfall hier jedoch nur den Rahmen der Erzählung bilden würde, hatte ich erwartet. Vielmehr zeigt Nii Parkes in „Die Spur des Bienenfressers“, dass nicht nur unsere westliche wissenschaftliche Denkweise geeignet ist, um die Welt zu erklären. Gleichzeitig zeigt er die großen Unterschiede zwischen der ghanaischen Stadt- und Landbevölkerung auf. Gepaart mit seinem feinsinnigen, schelmenhaften Humor ist das Ergebnis eine höchst unterhaltsame und lesenswerte Lektüre.

Ich hätte mir jedoch mehr Kapitel aus der Sicht der Dorfbevölkerung gewünscht. Ich hatte erwartet, dass im ständigen Wechsel aus beiden Perspektiven erzählt wird. Leider kommt die Dorfbevölkerung jedoch nur ganz zu Beginn und dann erst wieder am Ende zu Wort. Der wesentlich umfangreicher Mittelteil jedoch handelt ausschließlich von Kayo, was ich etwas schade fand. Auch das Ende hätte ich mir ambivalenter gewünscht.

lesenswert

Erzähler der Nacht. - Rafik Schami

Das erste Mal näher mit Rafik Schami in Berührung kam ich vor etwa 10 Jahren auf einer Buchmesse. Damals stellte er seinen Roman „Die dunkle Seite der Liebe“ vor, aus dem er ein Stück vorlas und anschließend noch ein Interview gab. Seine Erzählkunst begeisterte mich gleich. Mit seiner Geschichte trug er die Zuschauer weit weg in eine fremde, orientalische Welt mit einem zarten märchenhaften Zauber.

Seitdem habe ich einige Bücher von Rafik Schami gelesen und war jedes Mal entzückt Daher habe ich mich sehr gefreut, dass mir Rafik Schami erster Roman für die Leserlieblingsbuchchallenge vorgeschlagen wurde. Ich hatte „Erzähler der Nacht“ binnen weniger Tage gelesen. Dennoch war ich etwas enttäuscht, denn mir fehlte es an inhaltlicher Substanz.

 

Worum geht es?

Früher war Salim ein erfolgreicher Kutscher in Damaskus. Sein Erfolgsgeheimnis war sein Talent als Geschichtenerzähler. Nun aber ist er verstummt und nur sieben besondere Gaben können ihm seine Stimme zurückgeben. Sofort beraten sich seine sieben besten Freunde, um welche Gaben es sich handeln könnte: sie probieren besonders gutes Essen, teure Wein und kostbare Duftwasser aus, aber nichts hilft. Doch dann kommen die Freunde auf die Idee, Salim reihum jeden Abend eine Geschichte zu erzählen.

 

Wie war mein erster Eindruck?

Die Romane von Rafik Schami gibt es leider nicht als eBooks. Daher habe ich mich – wegen des günstigen Preises – für die dtv-Ausgabe von „Erzähler der Nacht“ entschieden. Die aufwändige Seitengestaltung überraschte mich positiv.
Jede Seite ist oben mit einem Ornamentband verziert, das in jedem Kapitel wechselt. Auch die Seitenzahlen sind in Arabesken eingefasst. Die letzten Zeilen jedes Kapitels sind zentriert gesetzt und schließen mit einem weiteren Muster ab.

 

Der Einstieg in die Geschichte gefiel mir ebenfalls sehr gut.
Ganz der für mich typisch arabischen Erzählkunst folgend lässt Rafik Schami seinen Erzähler gleich zu Beginn in direkten Kontakt zum Leser treten, in dem er diesen anspricht. Als Leserin hatte ich dadurch ein bisschen das Gefühl, „Erzähler der Nacht“ sei exklusiv für mich geschrieben worden oder als säße ich in einem kleinen arabischen Kaffeehaus, um einem Hakawati (=Kaffeehauserzähler) zuzuhören.
Durch diese gefühlte Nähe zum Erzähler des Buchs und dessen besonderer Gestaltung fand ich schnell in die Geschichte und erlag praktisch von der ersten Seite an dem besonderen orientalischen Märchenzauber.

 

Wie fand die Sprache?

Obwohl Rafik Schami seine Romane auf Deutsch schreibt, merkt man seinem Erstling „Erzähler der Nacht“ die syrischen Wurzeln des Autors an. Die blumige, bildhafte Sprache und die zahlreichen Vergleiche des Arabischen, die mir so gut gefallen, behält Rafik Schami auch im Deutschen bei. Auf den Leser wirkt dies zunächst ungewohnt, denn obwohl er deutsche Worte verwendet, unterscheidet sich seine Sprache doch deutlich von den gewohnten poetischen Ausdrucksweisen anderer deutschsprachiger Autoren. Rafik Schamis Wortwahl besitzt einen ganz besonderen orientalischen Charme, der den Leser fast vom ersten Moment an verzaubert und entführt. Sie harmoniert ideal mit dem Inhalt von „Erzähler der Nacht“ und macht das Buch zu einem besonderen Leseerlebnis.

 

Wie fand ich die Charaktere?

Wie bei Märchen üblich findet man auch in „Erzähler der Nacht“ keine komplexen, fein gezeichneten Charaktere. Salim und seine Freunde werden nur mittels weniger Merkmale, meist sind es die Berufe, grob beschrieben. Ich fand sie dadurch ziemlich austauschbar. Auch hatte ich meine Probleme mit den arabischen Namen, die ich mir einfach nicht merken konnte. So fiel es mir des Öfteren schwer, die Charaktere auseinander zu halten. Die gute Nachricht ist aber, dass dies auch gar nicht nötig ist, da es im Grunde um die Geschichten geht, welche die Freunde erzählen.

 

Wie gefiel mir das Buch insgesamt?

Mit „Erzähler der Nacht“ legt Rafik Schami ein modernes orientalisches Märchen vor, das der arabischen Erzählkunst aus „Tausend und eine Nacht“ folgt. Es ist eine Sammlung verschiedener (Lebens-)Geschichten, Märchen, Anekdoten und Erfahrungsberichte, die so unterschiedlich wie ihre Erzähler sind.

Ursprünglich handelte es sich um Erzählungen, die Rafik Schami auf seinen Lesungen stets nur mündlichen vortrug. Irgendwann schrieb er sie auf und entwickelte eine Rahmenhandlung, die alle verbindet. Leider merkt man „Erzähler der Nacht“ nicht nur Rafik Schamis Sehnsucht nach seiner alten Heimat sondern auch die Entstehungsgeschichte auch an, wie ich finde. Zwar lässt sich das Buch flüssig lesen, und ich hatte dabei auch viel Spaß und gute Unterhaltung; mir fehlte jedoch der berühmte „rote Faden“. Mir wurde leider bis zum Schluss nicht klar, was Rafik Schami dem Leser mit seinen Erzählungen vermitteln möchte. Für sich genommen hat zwar jede Geschichte ihren eigenen Reiz; ein überspannendes Thema und eine klare Botschaft konnte ich jedoch nicht entdecken. So blieb ich am Schluss leider trotz allem orientalischen Märchenzauber etwas ratlos zurück.

 

Auerhaus: Roman  Gelesen von Robert Stadlober - Bov Bjerg, Robert Stadlober

Während meiner Zeit am Gymnasium kam ich jeden Morgen auf dem Schulweg an einer Wand mit einem Graffiti vorbei: „Geburt – Schule – Arbeit – Tod“ stand da. Damals beschäftigte mich diese Schmiererei mehr, als ich zugeben wollte.

Nun bin ich bei „Auerhaus“ von Bov Bjerg auf einen jugendlichen Protagonisten gestoßen, den genau das gleiche bewegt; der nicht will, dass sein gesamtes Leben in den Ordnern „Birth“, „School“, „Work“, Death“ verschwindet, wie das von jedem beliebigen anderen auch. Was in diesem Jugendroman porträtiert wird, ist nichts anders als das pralle Leben in all seinen Facetten; und das in einer Intensität, wie man sie wohl nur als Heranwachsender empfindet.

 

Worum geht es?

Der 18jährige Höppner hat vier Ordner mit den Aufschriften „Birth“, „School“, „Work“, „Death“ und möchte es um jeden Preis verhindern, dass sein gesamtes Leben restlos in diesen Kategorien verschwindet. Er will mehr; und vor allem will er anders werden als die eigenen Eltern. Auch den neuen Freund seiner Mutter kann er nicht leiden. Da trifft es sich gut, dass Frieder, der erst vor kurzem versuchte, sich das Leben zu nehmen, ihm anbietet, mit ihm in das alte Bauernhaus seines verstorbenen Großvaters zu ziehen. Zusammen mit 4 weiteren Freunden stürzen sich die beiden in das größte Abenteuer ihres Lebens: das Erwachsenwerden mit allem, was dazu gehört: Freundschaft, Liebe, Treue, (Homo-)Sexualität, Drogen, Bundeswehr, Polizei,… Dass man die 80er Jahre schreibt und sich irgendwo auf dem platten Land befindet, macht das Unternehmen nicht gerade einfacher. Und dann wäre da ja auch noch die ständige Angst um Frieder und davor, dass er sich wieder etwas antun könnte.

 

Wie war mein erster Eindruck?

Fast eine ganze Audio-CD (von insgesamt vier Stück) hatte es gedauert, bis ich mich an den Erzählstil von Bov Bjerg gewöhnt hatte. Der szenenhafte Aufbau, der das gesamte Geschehen nur knapp, kurzen Blitzlichtern ähnlich, widergibt, ließ mich zunächst nicht richtig in die Geschichte finden.

Außerdem lässt Bov Bjerg seinem Ich-Erzähler Höppner in „Auerhaus“ viel Zeit, um sich selbst vorzustellen und die Stimmung jener so verwirrenden Jahre des Heranwachens einzufangen. Hierdurch wurde meine Geduld zunächst etwas auf die Probe gestellt, weil mir lange nicht klar, worauf die Geschichte eigentlich hinaus will.
Im Nachhinein erkenne ich dahinter jedoch die Absicht und deren Notwendigkeit, den erwachsenen Leser „abzuholen“ und in die eigene Teenagerzeit zurückzuversetzen.

 

Wie fand ich die Sprache?

Bov Bjergs Sprache in „Auerhaus“ ist sehr authentisch. Seine Wortwahl passt gut zu dem Jugendlichen, der hier als Erzähler auftritt. Sie ist klar, direkt und ungekünstelt. Es ist keine wohlklingende, ausgefeilte Schriftsprache. Stattdessen arbeitet Bov Bjerg mit kurzen Sätzen und häufigeren Wiederholungen von Worten und Phrasen.

Bisweilen schweift Höppner in seiner Erzählung etwas ab und verliert sich in Details, die nur ihm wichtig sind. Im nächsten Moment ruft sich jedoch selbst wieder zur Ordnung. Hierdurch entsteht der Eindruck, als erzähle jemand tatsächlich gerade so, wie es ihm in ebendiesem Moment einfällt.
Das Hörbuchformat passt hierzu perfekt und verstärkt diesen Effekt.

 

Wie fand ich die Charaktere?

Die Bewohner des „Auerhaus“, wie die Schüler-WG wegen ihres Lieblingssongs „Our House“ im Dorf schnell heißt, wurden mir während des Hörens schnell zu guten Freunden. Zwar lässt der szenenhaften Aufbau des Hörbuchs keine ausführliche Einführung der Charaktere zu. Dadurch dass, man die Freunde jedoch nur in außergewöhnlichen Szenen erlebt, wo sie dann sehr charakteristisch reagieren, bekommt man schnell einen Eindruck von ihnen. Auch hilft es, dass wahrscheinlich jeder von uns ähnliche Klassenkameraden hatte: sensible Philosophen, kleine Rebellen, Partylöwen, Kiffer,… So schließt man die „Lücken“ schnell mit den Erinnerungen an die eigenen Schulfreunde und plötzlich selbst wieder 18 Jahre alt und mittendrin.

 

Wie fand ich den Schluss?

Der Schluss hat mich tief bewegt. Obwohl er sehr traurig ist, gefiel er mir gut, denn für mich ergab „Auerhaus“ so einen in sich stimmigen Eindruck. Ein Happy Ende hätte einfach nicht zu diesem Hörbuch gepasst und wäre mir zu viel Hollywood gewesen.

Das Ende, das Bov Bjerg vorsieht, war für mich glaubhaft und lebensnah. (Die Bilder zu meinen eigenen Erfahrungen dieser Art traten mir sofort wieder vor Augen. Das war nicht leicht, aber doch hilfreich.)

Auch lange nachdem der letzte Satz gesprochen war, war ich mit dem Gehörten beschäftigt. Erst eine knappe Woche später hatte ich den Inhalt soweit verarbeitet, dass ich mich an die Rezension setzen konnte.

 

Wie fand ich den Sprecher?

„Auerhaus“ war mein erstes Hörbuch, das von Robert Stadlober eingelesen wurde. Ich hatte zunächst Angst, dass ich beim Hören immer ihn vor meinem geistigen Auge haben würde und mir so kein gutes Bild von Höppner würde machen können. (Bei der sehr charakteristischen Stimme von Katharine Thalbach, die ich als Schauspielerin sehr schätze, oder bei Christoph Maria Herbst geht mir das so.)

Robert Stadlober nimmt sich beim Lesen von „Auerhaus“ jedoch sehr zurück. Er drängt sich nie selbst in den Vordergrund und verleiht Höppner dadurch eine authentische Stimme.

Die Wahl des Sprechers ist auch deshalb sehr gut gelungen, weil man Robert Stadlobers jugendliche Stimme den 18jährigen tatsächlich abnimmt.

 

Wie fand ich das Hörbuch insgesamt?

Von der Thematik über die Sprache und die Stimmung bis hin zum Sprecher – beim Hörbuch von „Auerhaus“ passt einfach alles zusammen. Was Bov Bjerg in diesem Jugendroman porträtiert, ist nichts anders als das pralle Leben in all seinen Facetten; und das in einer Intensität, wie man sie wohl nur als Heranwachsender empfindet. Dabei gelingt ihm das Kunststück, auch erwachsene Zuhörer wieder mit zurück zu nehmen in die eigene Schulzeit.

Trotz einer ernsten Thematik des Suizids und einer eher schwermütigen Grundstimmung, gerät das Hörbuch durch gekonnt akzentuierte humorvolle Passagen und einige witzige Slabstick-Momente wohltemperiert. Diese Balance aus Melancholie und Humor nimmt dem Thema etwas die Schwere und macht den besonderen Reiz dieses Hörbuchs aus. Weder ist es allzu trivial der albern noch wird man sich zu sehr in den Trübsinn gezogen.
Dank des bewegenden, authentischen Schlusses kommt die Botschaft von „Auerhaus“ dennoch an.

Die jugendliche, klare Sprache und ein treffend gewählter Sprecher machen das Hörbuch zu einer runden Sache, bei der man schnell den Eindruck bekommt, den Erzähler Höppner tatsächlich zu kennen.

Es macht Spaß dieses Hörbuch zu hören und auch nach dem letzten Satz klingt es noch lange nach.

Buchtipp

Balzac und die kleine chinesische Schneiderin - Sijie Dai

Wieder einmal habe ich mich durch die Leserlieblingsbuchchallenge an einen Roman gewagt, der sonst vermutlich nie auf meiner Leseliste gelandet wäre. Und wieder einmal bin ich sehr froh, dass mir dieses berührende, vielschichtige und poetische Buch empfohlen wurde. Ich habe „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ von Dai Sijie innerhalb kürzester Zeit gelesen. Dabei habe ich jede Zeile genossen und beendet das eBook mit einem gleichermaßen melancholischen wie wohlig-warmen Gefühl im Herzen.

 

Worum geht es?

Wie alle Intellektuellen-Kinder wurden auch Luo und der Ich-Erzähler, dessen Namen nicht genannt wird, während der chinesischen Kulturrevolution zur „Umerziehung“ in ein kleines abgelegenes Bergdorf geschickt. Beide stammen aus Familien, die als Feinde des Volkes gelten, und haben daher kaum Chancen, das Dorf je wieder zu verlassen. Durch ihr Talent fürs Geschichtenerzählen gelingt es ihnen, das Vertrauen der Dorfbewohner zu gewinnen. Bald werden sie sogar regelmäßig einmal im Monat in die Stadt geschickt, um sich einen Kinofilm anzusehen und anschließend im Dorf nachzuerzählen. Dann aber verlieben sich beide in die gleiche Frau. Aber so richtig beginnt der Ärger erst, als sie erfahren, dass ihr in einem Nachbardorf lebender Freund streng verbotene westliche Bücher versteckt, welche die beiden nur zu gerne lesen würden.

 

Warum habe ich es gelesen?

Ich gebe zu, dass ich zwar schon von „Balzac und die kleine chinesische Schneider“ gehört hatte, mich aber nie näher mit dem Inhalt beschäftigte. Ich erwartete dabei einen klassischen Liebesroman. Für dieses Genre habe ich jedoch nicht allzu viel übrig; und so ließ ich es immer unbeachtet.

 

Nun aber bekam ich Dai Sijies Debut für die Leserlieblingsbuchchallenge vorgeschlagen und nutzte die Chance, meine Bildungslücke zu schließen. Bestimmte Erwartungen hatte ich nicht.

 

Wie war mein erster Eindruck?

„Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ beginnt etwas unvermittelt und ohne einführende Worte mit einer sehr ausdrucksstarken Szene, in der die Dorfbewohner die Neuankömmlinge aus der Stadt und ihr Gepäck begutachten. Vor allem die Geige des Erzählers fasziniert sie sehr, denn dieses Musikinstrument ist ihnen unbekannt. Damit führt Dai Sijie auch sofort eines der Grundthemen des Romans ein: die großen Unterschiede zwischen dem Leben auf dem Land und in der Stadt. Diese sind tatsächlich so gravierend, dass ich die Szene zunächst falsch verstand und dacht, bei dem Erzähler handele es sich um einen Mann aus dem Westen, einen Amerikaner vielleicht. Schnell wird jedoch klar, dass Luo und sein Freund genau wie die Dorfbevölkerung Chinesen sind und dass sie als Jugendliche zur „Umerziehung“ in die Provinz geschickt wurden.

 

Mir gefiel dieser Einstieg sehr gut. Sijie lässt die Szene für sich selbst sprechen und auf den Leser wirken. Er beschreibt ruhig und neutral aus einer reinen Beobachterperspektive. Die Spannung entsteht allein aus der Situation selbst, die Sijie ohne viele Worte so eindringlich beschreibt, dass ich sie fast schon plastisch vor Augen hatte.

 

Wie fand ich die Charaktere?

Dai Sijie gelingt es mit „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ einen atmosphärisch dichten, poetischen und zugleich kritischen Roman zu schreiben. Dass er dabei mit nur einer Handvoll Charaktere auskommt, beeindruckte mich.

 

Im Mittelpunkt des Romans stehen der Erzähler und Luo, die beide individuell und schön gezeichnet sind. Auch die kleine Schneiderin, in die sich beide verlieben wird schön gezeichnet und besitzt persönliche Charakterzüge.

Die weiteren Nebencharaktere hingegen stehen jeweils stellvertretend für größere Gruppen. Bei ihnen werden jeweils nur einige wenige besonders charakteristische Merkmale und Verhaltensmuster herausgearbeitet.

 

Durch die wenigen Charaktere, denen der Leser begegnet, wird die Abgeschiedenheit des Bergdorfs atmosphärisch schön verdeutlicht. Die Einsamkeit der Jugendlichen, die durch das deutlich höhere Bildungsniveau der beiden zusätzlich verstärkt wird, war für mich so beinahe spürbar.

 

Wie fand ich das Buch insgesamt?

„Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ ist ein berührender, teils autobiografischer Roman über die Macht der Literatur. Aus den Seiten spricht eine solche Liebe und Leidenschaft für die Klassiker der Weltliteratur, dass man selbst eine fast unbändige Lust verspürt, die zitierten Werke gleich dem Erzähler und seinen Freunden für sich zu entdecken.

 

Zudem ist es eine zarte Liebesgeschichte. Dai Sijie erzählt nicht überschwänglich von großen Gefühlen, sondern beschränkt sich auf eine Schilderung aus der Beobachterrolle heraus. Aus dem Text spricht eine feinfühlige Poetik, die auch von der Liebe des Erzählers zur kleinen Schneiderin zeugt. Es ist eine sehr sinnliche und zugleich unschuldige Dreiecksbeziehung voller Herzenswärme und aufrichtiger Wertschätzung. Mich sprach dies sehr viel mehr an, als viele klassische Liebesromane mit besonders überschwänglichen Gefühlsbeschreibungen.

 

Eine weitere Stärke dieses Romans liegt in der schönen Schilderung des einfachen Lebens jener Dorfbevölkerung, bei denen der Erzähler wohnt. Die harte, oft mühsame Arbeit auf den Reisfeldern wird ebenso deutlich dargestellt wie die Landschaft und Natur jener Gegend. So bekommt der Leser einen seltenen Einblick in die Lebenswirklichkeit der breiten Landbevölkerung während der chinesischen Kulturrevolution.

 

Bei aller der Schönheit, Poesie und Hingabe in diesem Roman besitzt „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ jedoch auch einen feinsinnigen Humor, der einem Schelmenroman gleich von Zeit zu Zeit aufblitzt. Vor allem der Begriff „revolutionär“ wird des Öfteren mit einem ironischen Augenzwinkern benutzt, was mir gut gefiel. Hierdurch entsteht eine gewisse Leichtigkeit und Unterhaltsamkeit, die den ansonsten doch eher ernsten Themen des Romans ein wenig Schärfe nimmt. Gleichzeitig schwingt darin jedoch auch eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema mit, was „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ eine weitere Ebene mit zusätzlicher tiefe hinzufügt.

Ich habe den Roman gerne und in kürzester Zeit gelesen. Er ist eine gefälligen, gut zugänglichen Stil geschrieben, der jedoch keineswegs trivial zu nennen wäre. Wieder einmal bin ich sehr froh, dass mich die Leserlieblingsbuchchallenge auf diesen schönen Roman aufmerksam machte.

 

Quelle: http://kerstin-scheuer.de/?p=3459
Charlie Und Die Schokoladenfabrik - Roald Dahl, Quentin Blake

Normalerweise lese bzw. höre ich bewusst keine (Hör-)Bücher, zu denen ich nur die Verfilmung kenne. Dem Film zu schauen, nachdem ich das Buch gelesen habe, mag ja noch gehen, aber andersrum schränkt es meine Fantasie zu sehr ein. Denn ich übernehme fast immer automatisch die Filmsettings und –figuren, statt mir auf Grund der Beschreibungen im (Hör-) Buch ein eigenes Bild zu machen. Für Lieblingsfilme mache ich dann aber doch gerne einmal eine Ausnahme. So kam es, dass ich am letzten Samstag während des Wohnungsputzes „Charlie und die Schokoladenfabrik“ von Roald Dahl hörte und dabei fast so viel Spaß hatte wie mit dem Film. Einzig Sprecher Ulrich Noethen gefiel mir nicht ganz so gut.

 

Worum geht es?

Charlie lebt mit seinen Eltern und Großeltern in sehr armen Verhältnissen. Süßigkeiten wie Schokolade sind ein Luxus, den sich die Familie nur zu Charlies Geburtstag leisten kann. Als die Schokoladenfabrik von Willy Wonka in der Nachbarschaft nach langer Zeit wieder mit der Produktion anfängt, ist die Aufregung groß, denn nie sieht man Arbeiter. Fünf Kinder aber sollen die Möglichkeit zu einer Fabrikbesichtigung bekommen. Es grenzt an ein Wunder, dass es Charlie gelingt, eine der goldenen Eintrittskarten zu finden, die hierzu in den Schokoladenpackungen versteckt sind. Zusammen mit seinem Großvater und 4 weiteren Kindern und deren Eltern darf er Willy Wonkas verrücktes Schokoladenreich betreten.

 

Warum habe ich es gelesen?

Die Verfilmung dieses Kinderbuchklassikers von Tim Burton mit Johnny Depp als Willy Wonka ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Zu meiner großen Schande muss ich aber gestehen, dass ich die Buchvorlage bislang nicht kannte. (Ich wusste lange Zeit nicht einmal, dass es eine gibt.) Diesen beinahe schon skandalösen Zustand wollte ich unbedingt ändern.

 

Wie gefiel mir das Hörbuch?

Ich finde es ja immer schwierig, ein Buch erst dann zu lesen, nachdem ich bereits den Film gesehen habe. Dann gelingt es mir meist nicht, mir ein eigenes Bild von den Figuren und Handlungsorten zu machen. Stattdessen sehe ich immer die Filmsettings und Schauspieler vor meinem geistigen Auge agieren. Das war zwar auch diesmal der Fall; bei einem Lieblingsfilm stört mich das aber nicht.
Tatsächlich ist der Film erstaunlich nah an der Buchvorlage. Burton änderte nur einige unwesentliche Details. So findet Charlie die goldene Eintrittskarte im Buch z.B. erst bei der vierten Tafel Schokolade, während es im Film die zweite ist. Die wesentlichste Veränderung ist wohl, dass Mickey Schießer in Burtons Version ein Computerspiele-Fan ist, während er im Buch ein Fernsehnarr mit einer Vorliebe für Spielzeugwaffen ist. Allerdings schrieb Roald Dahl „Charlie und die Schokoladenfabrik“ auch schon 1969, als Computerspiele noch kein Thema unter Kindern und Jugendlichen war.

 

„Charlie und die Schokoladenfabrik“ ist ein Kinderbuchklassiker, dessen Botschaft sich auch an Erwachsene richtet. Die fünf Kinder sind stereotypisch aufgebaut und haben jeweils nur einen hervorstechenden Charakterzug: Augustus Glupsch ist gierig und maßlos, Veruschka Salz verwöhnt, Violetta Beauregarde ehrgeizig und stur und Mickey Schießer fernsehsüchtig und fasziniert von Gewalt. Allesamt werden als sehr unangenehm dargestellt. Im Laufe der Fabrikbesichtigung passieren ihnen Unfälle. Damit wird im Nachhinein immer deutlich gemacht, dass diese auf ihre negativen Verhaltensweisen zurückzuführen sind, so dass eine eindeutige Botschaft vermittelt wird. Aber Roald Dahl lässt auch die Eltern nicht aus der Verantwortung. So wird nach jedem Unfall auch erklärt, dass es die nachgiebige, inkonsequente, mangelnde Erziehung der Eltern ist, die ihre Kinder zu dem macht, was sie sind. Dies ist es, was mir an dieser Geschichte am besten gefällt. Sie zeigt Kindern auch, dass Erwachsene auch nicht immer alles richtig machen, und erinnert gleichzeitig die Eltern an ihre Verantwortung.

Einziger Wermutstropfen dieses Hörbuchs ist der Sprecher. Ulrich Noethen ist hier für meinen Geschmack keine besonders glückliche Wahl. Er liest sehr nüchtern und mit nur wenig Intonation. Noethens Vortrag wirkt dadurch schnell langweilig und nur wenig abwechslungsreich. Er schafft es nicht, den einzelnen Figuren eine jeweils individuelle Stimme zu verleihen. Gerade für ein Kinderbuch hätte ich mir einen lebendigeren, fröhlicheren Vortrag gewünscht.

 

lesenswert

Unten am Fluß. Watership Down - Richard Adams

Das Cover meiner Ausgabe von “Unten am Fluss” aus 1985 ziert ein Spiegelzitat: “Dieses Buch hat es verdient, unsterblich zu werden.” Klingt vielsprechend… Ich bin mir da aber nicht so sicher.

Selten hat mich ein Buch so zweigespalten zurückgelassen wie “Unten am Fluss” Richard Adams:
Einerseits ist es ein großartiges und fantasievolles Abenteuer, in dem es um mehr als nur ein paar Kaninchen geht und mich gut unterhielt.
Andererseits vermittelt es ein sehr traditionelles weibliches Rollenbild, das mir die Lesefreude bisweilen schon ziemlich vermieste.

 

Worum geht es?

Fiver ahnt es als Erster: Der Kaninchenbau ist in großer Gefahr. Obwohl ihm das Oberkaninchen nicht glaubt, flieht er sich zusammen mit seinem Bruder Hazel und ein paar anderen Kaninchen ins Ungewisse. Es wird eine anstrengende Reise voller gefährlicher Abenteuer, die einigen Blutzoll verlangt, bevor in der neuen Heimat endlich Freiheit und friedliches Glück winken.

 

Warum habe ich es gelesen?

Als Kind habe ich gerne die Zeichentrickserie zu “Unten am Fluss” gesehen. Die zahlreichen Abenteuer der Kaninchen auf dem Weg in eine neue Heimat gefielen mir sehr. Auch erinnerte ich mich noch daran, dass die Geschichte auch auf die Folgen des Menschen durch dessen Eingriff in Natur und die zunehmende Umweltverschmutzung hinwiesen. Als ich dieses Buch für die Leserlieblingsbuchchallenge empfohlen bekam, war ich daher sofort angetan. Ich war gespannt, wie ich “Unten am Fluss” nun mit den Augen einer Erwachsenen wahrnehmen würde.

 

Wie war mein erster Eindruck?

Ich las “Unten am Fluss” in einer älteren Ausgabe aus 1985, die ich zufällig im öffentlichen Bücherregal im Büro fand. Die Ausstattung sprach mich gleich an. Das Buch enthält zwei gezeichnete Karten, die den Weg der Kaninchen und die einzelnen Stationen schön illustrieren.

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Den Schriftsatz fand ich jedoch sehr anstrengend. Das Buch ist in engen Zeilen und einer kleinen Schrift verfasst, was mich als kurzsichtige Brillenträgerin bisweilen ermüdete.

Das Buch ist in vier Teile mit jeweils mehreren Kapiteln untergliedert. Jedem Kapitel ist ein Zitat vorangestellt, das einen inhaltlichen Bezug aufweist. Eine beeindruckende Fleißarbeit!

Auch inhaltlich sprach mich der Anfang gleich an, denn Richard Adams kommt ohne große Umschweife direkt zur Sache und beginnt seine Geschichte mit Fivers böser Vorahnung eines nahenden großen Unheils. So ist man sofort mitten in der Geschichte und erlebt sofort eine Spannung, die einen zügig weiterlesen lässt.

Dennoch brauchte es einige Zeit, bis ich mich ganz in der Geschichte zu Recht fand. Die Kaninchen verfügen nämlich über eigene Ausdrücke, die in Fußnoten erläutert werden. Bis man sich dieses “Vokabular” angeeignet hat, ist der Lesefluss leider etwas stockend und mühsam. Ein Anhang wäre meines Erachtens eine schönere Lösung gewesen. So hätte man einzelne Ausdrücke auch später noch einmal nachschlagen können.

 

Wie fand ich die Übersetzung?

Egon Strohms Übersetzung enthält leider ein paar Fallstricke, die bei mir zeitweise für etwas Verwirrung sorgten. So wird das englische warren beispielsweise mit Gehege übersetzt, obwohl es sich um wilde Kaninchen handelt. Gerade zu Beginn des Buchs stolperte ich immer wieder über diese Bezeichnung. Kaninchenbau wäre meines Erachtens eine treffendere Bezeichnung gewesen.

Schön fand ich indessen, dass die Eigennamen der Kaninchen, die meist nach Pflanzen benannt sind, nicht übersetzt wurden. Pusteblume und Haselnussstrauch wäre schon sehr seltsame und kitschige Kaninchennamen gewesen.

 

Wie fand ich die Charaktere?

“Unten am Fluss” ist aus der Perspektive der Kaninchen geschrieben. Solche ungewohnten Sichtweisen machen mir immer Spaß.
Adams Kaninchen sind dabei nicht so stark vermenschlicht, wie dies in klassischen Fabeln der Fall ist. Sie haben eine sehr grenzten Horizont und verlassen sich weitestgehend auf ihre natürlichen Instinkte. Andererseits unterhalten sie sich, verfügen – wie bereits beschrieben –  über eigene Ausdrücke und haben sogar eine eigene Mythologie.
Für mich hatte diese Mischung einen besonderen Reiz. Der Leser erlebt relativ natürliche Verhaltensweisen; gleichzeitig bringen die eigene Sprache und Mythologie die Kaninchen dem Leser ein ganzes Stück näher. Man meint einen Einblick in eine sonst verschlossene Welt zu bekommen.

Die fliehende Kaninchengruppe ist eine sehr bunt zusammengewürfelte Truppe. Vom jugendlichen Heißsporn mit Anführerqualität über den feinfühligen Träumer bis hin zum geborenen Kämpfer sind alle Charaktere vertreten. Dass sich diese so leicht zuordnen lassen, störte mich in diesem Fall nicht sonderlich. Die Geschichte, die Richard Adams in “Unten am Fluss” erzählt ist eine so universelle, dass ich es vollkommen legitim – ja, fast schon notwendig – finde, hier mit Stereotypen zu arbeiten.

Von Anfang etwas vermisst, habe ich jedoch weibliche Charaktere. Die fliehenden Kaninchen sind ausnahmslos männlich. Sie treffen zwar später auf andere Kaninchen, darunter auch Weibchen; diese werden jedoch nur sehr selten namentlich genannt und bleiben während des gesamten Buchs im Hintergrund und ausnahmslos Nebencharaktere. Eine ausgewogene Charakterauswahl sieht für mich anders aus. Da ändert es auch nicht viel, dass “Unten am Fluss” bereits 1972 geschrieben wurde.

 

Wie fand ich das Buch insgesamt?

“Unten am Fluss” ist eine spannende Geschichte über die Suche nach einer neuen Heimat. Im Exodus der Kaninchen schwingt nur die Frage des Verhältnisses des Menschen zur Natur (Umweltverschmutzung, Zerstörung natürlichen Lebensraums) mit. Es ist auch eine interessante Studie darüber, was gute Führung ausmacht. Zudem werden in den unterschiedlichen Kaninchengruppen, denen die Helden begegnen, verschiedene Gesellschaftsformen porträtiert und in Bezug auf die Freiheit des Einzelnen dargestellt.

Gerade unter dem letzten Gesichtspunkt fand ich den Handlungsverlauf und bereits angedeuteten Blick auf die Weibchen der Gruppe jedoch problematisch. Die neuen Heimat “Watership Down”, nach der der Roman im englischen Original benannt ist, erreichen die Kaninchen bereits im zweiten Teil. Danach dreht sich die Geschichte um deren Bemühungen, Weibchen für den eigenen Bau zu finden. Die Rolle der Frau wird dabei ziemlich eindimensional dargestellt. Weibchen sind reines Zuchtmaterial, die nur solange etwas wert sind, wie sie zur Fortpflanzung taugen. Um das Fortbestehen des eigenen Baus zu sichern, beschließt man daher kurzerhand, einfach eine ausreichende Zahl zu entführen.
Nun könnte es zwar mit dem Argument, Richard Adams schreibe eben über Kaninchen und Natur sei eben Natur. Aber “Unten am Fluss” ist wesentlich mehr, als nur einen nette Geschichte über ein paar Kaninchen. Sie dient auch dazu den Wert bestimmter Gesellschaftsform wie z.B. dem Sozialismus, totalitärer Systeme und der Demokratie für die Freiheit des Einzelnen zu beleuchten. Vor diesem Hintergrund finde ich es auch und gerade 1972 sehr empörend, ein so traditionelles Frauenbild zu propagieren. Ich mag diesbezüglich vielleicht besonders empfindlich sein, aber mich störte diese Entwicklung der Geschichte massiv und verhagelte mir im dritten und vierten Teil doch sehr den eigentlich spannenden Lesegenuss.

 

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Höbuchtipp

Die Seiten der Welt - Argon Verlag, Kai Meyer, Simon Jäger

Kai Meyers “Die Seiten der Welt” ist großes Abenteuer mit viel Magie und Buchzauber, das die Zwölfjährige in mir und mein mittlerweile 20 Jahre älteres Ich gleichermaßen begeistern und in seinen Bann ziehen konnte.

Simon Jäger, den ich bisher nur von Thriller-Hörbüchern kannte, liegt dieses Genre ganz ausgezeichnet. Fast meint man ein Hörspiel mit mehreren Sprechern zu hören.

 

Worum geht es?

Als Bibliomantin Furia Salamandra Faerfax mit ein schier unerschöpflichen magischen Fähigkeiten ausgestattet. Aber um ihre Kräfte vollständigen nutzen zu können, benötigt sie noch ihr Seelenbuch, nach dem sie verzweifelt sucht. Als ihr Vater von einer anderen Bibliomantin getötet und ihr Bruder entführt wird, macht sich Furia trotzdem auf den Weg nach Libropolis; der Stadt der verschwundenen Buchläden. Dort lernt sie die Diebin Cat und den Rebellen Finnian kennen, die ihr helfen wollen, ihren Bruder zu befreien. Aber schnell merken sie, dass es um viel mehr geht, denn die Welt der Bücher ist in Gefahr.

 

Warum habe ich es gehört?

 

Mir wurde das Buch für die Leserlieblingsbuchchallenge empfohlen. Ich habe es ausgewählt, weil es um Bücher geht. Außerdem sprach mich das phantastische Setting an. Ich erwartete ein buchiges Fantasy-Abenteuer.

Leserlieblingsbücher

 

Wie war mein erster Eindruck?

Gleich in den ersten Minuten begibt sich Furia in den riesige Familienbibliothek, die schon seit Generationen gepflegt und erweitert wird. Schon allen der Gedanke ließ mein Bücherherz höher schlagen. Ich denke, wir verstehen uns da.
Als sie dort dann auch noch auf der ersten phantastische Wesen trifft, war es endgültig um mich geschehen.   Ich liebe Bücher, in denen die Zwölfjährige in mir voll auf ihre Kosten kommt. Das muss ab und zu einfach sein. Bei diesem Hörbuch schlug sie bereits nach wenigen Minuten Purzelbäume vor Begeisterung.

 

Wie fand ich die Charaktere?

Kai Meyer erschafft in “Die Seiten der Welt” sehr ausdifferenzierte Charaktere fern ab aller Stereotypen. Vor allem dass die Hauptprotagonistin Furia ein mutiges und kluges Mädchen ist, fand ich sehr angenehm. Auch Cat und Finnian sind schön gezeichnet. Nicht immer geht es innerhalb dieser Dreiergruppe konfliktfrei zu. Dies erhöht die Spannung zusätzlich zur eigentlichen Handlung.

Vor allem was die phantastischen Charaktere betrifft, sprüht dieses Hörbuch vor Einfallsreichtum. Die gibt es Origamis, die in Bibliotheken den Staub von Büchern fressen, sprechende Leselampen und -sessel mit Eigenleben, sprechende Bücher und nicht selten fällt eine Figur aus einem Buch heraus. So erleben wir Furia z.B. Seite an Seite mit den Figuren aus Shakespeares Sommernachtstraum im Kampf.

 

Wie fand ich den Sprecher?

Simon Jäger kenne ich bislang vor allem von Thriller-Hörbüchern. Daher war ich zunächst überrascht, dass er “Die Seiten der Welt” liest. Ich musste er schnell feststellen, dass im dieses Genre eigentlich fast noch besser liegt. Sei es nun Furias Lesesessel, das Schnabelbuch oder Furias kleiner Bruder; allen verlieh er eine individuelle und authentische Stimme. Fast kommt man sich wie einem Hörspiel vor, bei dem mehrere Personen die verschiedenen Rollen lesen.

Simon Jähr hat einen sehr lebendigen Lesestil und gutes Tempo. So kann man der Geschichte nicht nur leicht folgen; fast scheint es so, als erlebe man beim Hören alles selber hautnah.

 

Wie fand ich das Hörbuch insgesamt?

Kai Meyers “Die Seiten der Welt” ist ein großes Abenteuer voller Magie und phantastischer Welten. Es hat sowohl die Zwölfjährige in mir als auch mein aktuelles 20 Jahre älteres Ich gleichermaßen begeistert und in seinen Bann gezogen. Nicht zuletzt durch Simon Jäger, der diesen Roman sehr lebendig einlas, entführt das Hörbuch in eine vollkommen andere Welt, die den Alltag komplett vergessen macht.

Der starke Bezug zur Welt der Bücher dürften es wohl jedem echten Bücherfan schwer machen, sich diesem Hörbuch zu entziehen. Denn mal ehrlich: wer würde nicht gerne durch einen Wald streifen, in dem Lesebändchen an Bäumen wachsen?! Oder von Angesicht zu Angesicht den Figuren seiner Lieblingsbücher gegenüber stehen?!

Auch schön gezeichnete Charaktere fernab aller Stereotypie machten das Hörbuch für mich zum Genuss. Furia ist mutiges, kluges Mädchen, dem es gelingt sich im für sie fremden Libropolis ganz alleine zu Recht zu finden. Um ihren kleinen Bruder zu befreien, schreckt sie auch nicht vor einem Kampf mit einer erwachsenen, extrem starken Bibliomantin zurück. Dies macht sie zu einem tollen Vorbild!

Aber “Die Seiten der Welt” bietet nicht nur spannende Abenteuer mit phantastische Charaktere. Es enthält einige lustige Stellen, die mir sehr gefielen. Vor allem das freche Schnabelbuch mit seinen vorwitzigen Kommentaren brachte mich immer wieder zum Schmunzeln und lockerte die sonst recht düstere Stimmung regelmäßig auf.

 

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Vom Inder, der auf dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr um dort seine große Liebe wiederzufinden: Eine wahre Geschichte - Per J. Andersson

Wer auf Grund des Titels eine witzige Geschichte voller absurdem Klamauk á la Jonas Jonasson erwartet, wird von “Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um dort seine große Liebe wiederzufinden” vielleicht etwas enttäuscht sein. Bei diesem Buch handelt es sich nämlich um wahre Geschichte, die jedoch nicht weniger fantastisch erscheint. Der schwedische Journalist Per J. Andersson erzählt die erstaunliche Lebensgeschichte von Pikay. Es ist ein Buch voller Herzenswärme, das zeigt, was man alles erreichen kann, wenn man an sich und seine Bestimmung glaubt.

 

Worum geht es?

Pikay stammt aus ärmsten Verhältnissen. Dennoch schafft er es, sich in Neu-Delhi einen Namen als Portraitzeichner zu machen. Sein größter Erfolg ist eine Einladung der indischen Premierministerin Indira Gandhi, die sich ebenfalls von ihm malen lassen möchte. Dann aber trifft er 1975 die Schwedin Lotta, die mit einigen Freunden eine Rundreise durch Indien unternimmt. Pikay verliebt sich in sie und ist sich sicher, dass sie die Frau ist, die ihm bei seiner Geburt weißgesagt wurde. Als Lotta zurück nach Schweden fährt, beschließt Pikay daher kurzerhand, ihr zu folgen. Auf einem klapprigen Damenfahrrad macht er sich auf den mehr als 7.000 km langen Weg.

 

Warum habe ich es gelesen?

Auf das Buch wurde ich durch einen Tweet des Kiwi-Verlags aufmerksam, der seine Neuerscheinungen postete. Der Titel sprach mich sofort an. Natürlich musste ich an die Bücher von Jonas Jonasson denken. Aber auch das tolle Cover und die Aussicht auf einen weiteren Indienroman machten mich neugierig. Ich erwartete eine leichte und lustig-unterhaltsame Lektüre.

 

Wie war mein erster Eindruck?

Zunächst einmal war es etwas erstaunt, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Da ich den Klappentext im Vorfeld nicht gelesen hatte, war dieses Detail entgangen. Auf das Buch freute ich mich aber trotzdem, immerhin lese ich gerne Biografien.

 

Ich bin froh, beim Taschenbuch (und nicht wie ursprünglich beabsichtigt) beim eBook gelandet zu sein, denn die Gestaltung ist sehr ansprechend. Der Titel ist geprägt. Zudem enthält die Innenseite des Covers eine gezeichnet Karte, auf der man Pikass Route mit den wesentlichen Stationen nachschlagen kann. Im Anhang des Buchs befinden sich zudem einige Schwarz-Weiß-Fotos. Auf dem eReader wäre das wieder nicht ganz schön darstellbar gewesen. Vom Inder Karte

 

Wie fand ich die Sprache?

“Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um dort seine große Liebe wiederzufinden” ist in einem Sachbuch typischen eher nüchternen Berichtsstil verfasst. Nach den vielen Romanen, die in der letzten zeit las, fiel es mir etwas schwer, mich in diese wenig kunstvolle, eher reizlose Sprache einzufinden. Nachdem mir dies aber nach wenigen Kapiteln gelungen war, ließ sich das Buch flüssig und angenehm lesen. Durch den sprachlich eher geringen Anspruchsgrad lässt es sich bei diesem Buch sehr gut anschalten und entspannen.

 

Wie fand ich das Buch insgesamt?

“Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um dort seine große Liebe wiederzufinden” ist eine interessante, anregende Mischung aus Bollywood-Märchen, Reisestory und Hippie-Romanze. Das Buch lässt sich in zwei Hauptteile untergliedern: im ersten Teil wird Pikays Leben als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener erzählt, im zweiten begleitet man ihn auf seiner Reise. Beide Teile – so unterschiedlich sie thematisch auch sind – gefielen mir sehr gut.

Im ersten Teil des Buchs erfährt man viel über Indien in den 60er und 70er Jahren. Sehr eindrücklich schildert Per J. Andersson das hinduistische Kastensystem und vor allem die Situation der untersten Kaste, der “Unberührbaren”, der Pikay und seine Familie angehören. Mich rührte es sehr an, wie beispielsweise erzählt wird, dass Pikay zwar zur Schule gehen konnte, den Unterricht aber außerhalb des Klassenraums verfolgen musste. Auch die politischen Umbrüche jener Jahre in Indien sind interessant und werden leicht verständlich an Hand persönlicher Erlebnisse von Pikay wiedergegeben. So lernt man fast unmerklich eine ganze Menge über dieses so faszinierende Land.
Aber Pikays persönlicher Lebensweg ist beachtlich. Ich habe sehr gestaunt über all das Glück, das Pikay widerfuhr, aber auch über die große Schicksalsergebenheit, mit der er all die massiven Ungerechtigkeiten und herben Rückschläge seines Lebens ertrug. Es ist sein tiefes und unerschütterliches Vertrauen in die Erfüllung einer Prophezeiung, die ihm bei seiner Geburt gemacht wurde, die Pikay Kraft gibt und ihn weiter an sich glauben lässt.
Dies lässt ihn schließlich auch im zweiten Teil des Buchs ungeachtet seiner bescheidenen finanziellen Mittel nach Schweden aufbrechen. Pikay glaubt, seine Bestimmung zu kennen, und so hegt er auch keine Zweifel an seinem Vorhaben und dessen Gelingen. Und tatächlich widerfährt ihm auf dieser Reise so viel Gutes, das man über all die großzügige Unterstützung nur staunen kann.

 

Lottas Teil der Geschichte wird eher kurz in verschiedenen Einschüben erklärt. Für mich war das okay, da sie ein nach westlichen Maßstäben relativ normales Leben führt. Auch ihr Interesse an Indien ist für ihre Zeit, als auch die Beatles und andere Promis indische Gurus besuchten, nichts ungewöhnliches. Etwas schade, fand ich es dann aber doch, dass Lottas Reise nach Indien nicht genauer beschrieben wird. Zusammen mit ein paar Freunden fährt sie mit einem VW Bulli über Land bis nach Indien, und könnte hierüber vermutlich auch eine Menge erzählen.
Aber auch so hat das Buch bereits mehr als 300 Seiten, so dass Lottas Reise wohl den Umfang gesprengt hätte.

 

Per J. Andersson erzählt in “Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um dort seine große Liebe wiederzufinden” so liebevoll und anrührend, dass es eine Freude ist, es zu lesen. Dabei schafft er es, diese Liebesgeschichte vollkommen frei von Kitsch und doch mit einem gewissen leichten Zauber zu erzählen, den ich als sehr angenehm empfand. “Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um dort seine große Liebe wiederzufinden” ist ein moderne Märchen, das zeigt, was man alles erreichen kann, wenn man fest an sich selbst glaubt, und eine schöne Liebeserklärung an die Liebe.

 

Raubfischen: Roman - Matthias Jügler

Bücher sollten mich entweder durch den Inhalt bzw. die Handlung oder durch die Sprache überzeugen.

 

Im günstigsten Fall trifft gleich beides zu. Dann verstärken sich diese Aspekte gegenseitig, so dass ein besonders runder Eindruck entsteht. Ein solches Buch zu lesen, ist ein wahrer Genuss. Im ungünstigsten Fall fehlt es an beidem. Das sind die Bücher, die ich entweder erst gar nicht lese oder abbreche. Und dann wären da noch jene besonders traurigen Fälle, in denen der eine Aspekt den anderen gar behindert.

 

„Raubfischen“ von Matthias Jügler ist ein solches Buch, bei dem es die Sprache nicht schafft, den Inhalt zu transportieren, sondern zu diesem teilweise sogar im Widerspruch steht.

 

Worum geht es?

Ausgerechnet an seinem 16. Geburtstag erfährt Daniel, dessen Welt ohnehin schon ziemlich aus den Fugen ist, dass sein geliebter Großvater, mit dem er so viele Sommer beim Raubfischen in Schweden verbrachte, an ALS leidet. Hilflos muss er zusammen mit seiner Mutter und Großmutter zu sehen, wie der Körper des Großvaters nach und nach lebenswichtige Funktionen aufgibt. Als er schließlich weder sprechen noch schlucken noch atmen kann, trifft Daniel einen einsamen und mutigen Entschluss.

 

Warum habe ich es gelesen?

So seltsam es für manchen vielleicht klingen mag, war es doch zuerst einmal das Cover, das mich beim Stöbern in den Neuzugängen der Onleihe sofort ansprach. Das ganz in Grautönen gehaltene Motiv mit dem einsamen Fischerboot versprach einen ruhigen, nachdenklichen Roman. Als ich im Klappentext dann auch noch las, dass es um ALS und eine Enkel-Großvater-Beziehung geht, wanderte das eBook auf meine Vermerkliste und von da schnell auf meinen Tolino.

 

Wie war mein erster Eindruck?

Das eBook ist mit Illustrationen von Fischen erstaunlich aufwändig gestaltet. Fast fand ich es schade, „Raubfischen“ nicht als „analoges“ Buch ausgeliehen zu haben.Raubfisch Illustration

 

Der Text ist in zwei Teile untergliedert. Im ersten wird das Fortschreiten der Krankheit be­schrieben. Im zweiten setzt Daniel seinen gefassten Beschluss in die Tat um. Dabei lässt Matthias Jügler seinen jugendlichen Protagonisten jedoch nicht chronologisch erzählen. Immer wieder wird die aktuelle Handlung von Erinnerungen an gemeinsame Angelurlaube mit den Großeltern in Schweden unterbrochen. Diese Brüche stiften leider bisweilen Verwirrung und verhindern einen flüssigen Lesefluss.

 

Wie fand ich die Sprache?

Matthias Jüglers Sprache in „Raubfischen“ wirkt ruhig, sachlich und fast schon ein wenig distanziert. Er wählt kurze Sätze, die er manchmal abbricht, um einen anderen Gedanken einzuschieben. Emotionen werden weitestgehend ausgeblendet und allerhöchsten vorsichtig angedeutet.

 

Zum ersten Teil von „Raubfischen“ mag dieser reduzierte Sprachstil noch passen, wenn die Familie sich angesichts des nahen Todes des Großvaters rat- und hilflos fühlt und es ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlägt. 

Spätestens im wesentlich längeren zweiten Teil trägt dieser Stil jedoch leider nicht mehr. Hier schafft es Daniel, sich aus seiner anfänglichen Starre zu lösen. Er unternimmt etwas, um die Situation zu verbessern. In der Sprache schlägt sich diese neue Aktivität leider nicht nieder. Sie verharrt bei ihrer kargen Art. Der Sprachstil wirkt dadurch nun nicht nur deplatziert, sondern beeinträchtigt die eigentliche Aussage sogar.

 

Wie fand ich die Charaktere?

Bei „Raubfischen“ ist es mir leider nicht gelungen, ein klares Bild der Charaktere zu bekommen. Der Text bietet durch die fast vollständige Ausblendung von Emotionen zu wenige Anhaltspunkte, die dem Leser eine eigene Interpretation erlaubten. So konnte ich mich leider nicht mit Daniel identifizieren oder mich in ihn hineinversetzen. So erlebte ich den Text als reine Ausstehende, der die Motive und Gefühle der Handelnden verschlossen blieben.

 

Am besten gezeichnet ist meines Erachtens noch die Großmutter, die für diesen Roman sehr offen und ausführlich über ihr Zusammenleben mit ihrem schwindenden Mann spricht. Von ihr bekam ich eine kleine Ahnung davon, wie die Erkrankung für sie als Lebenspartnerin bedeutet. Leider ist sie aber nur ein Nebencharakter, der für die Handlung kaum eine Rolle spielt.

 

Wie fand ich das Buch allgemein?

„Raubfischen“ von Matthias Jügler konnte mich leider nicht überzeugen. Die Idee hinter dem Roman gefiel und gefällt mir zwar sehr gut. Leider mangelt es jedoch einer ansprechenden Umsetzung.

 

Am meisten störte mich der karge, distanzierte Sprachstil, der so wenig zum größeren, zweiten Teil des Buchs passen will. Zudem macht es das sprachliche Ausblenden von Emotionen nahezu unmöglich, ein klares Bild der Hauptcharaktere zu erhalten und sich mit ihnen zu identifizieren. Ein echtes Leseerlebnis kommt so nicht auf.

Der lose, szenenhafte Erzählstil erschwert zudem die Orientierung. Mir fiel bisweilen schwer, das Gelesene chronologisch an der richtigen Stelle einzuordnen. Ein flüssiges Lesen war mir dadurch nicht möglich.

 

Auch vermisste ich einen wesentlichen Teil der Handlung; nämlich Daniels Weg hinaus aus der allgemeinen Lethargie, die sich in seiner Familie breitmachte. Auf den ersten Teil, in dem man den Krankheitsverlauf und die Sprachlosigkeit, mit der die Familie darauf reagiert, miterlebt, folgt ein klarer Bruch. Im zweiten Teil ist Daniels Entschluss bereits gefallen und man erlebt dessen Umsetzung. Was fehlt, ist die Entwicklung hierhin. Gab es einen bestimmten Auslöser? Wie schaffte Daniel diesen Schritt? Der Text lässt dies ebenso offen, wie Daniels Absichten und Motive.

 

Am Ende ließ mich „Raubfischen“ deshalb etwas ratlos und verwirrt zurück. Der offene Schluss lässt viel Raum zur eigenen Interpretation, was ich eigentlich immer recht schön finde. In diesem Fall aber war ich von der zu großen Interpretationsfreiheit, die Matthias Jügler dem Leser lässt, überfordert. Die eigentliche Aussage dieses Romans blieb mir auch nach langem Nachdenken verschlossen. Ich habe nur eine dumpfe Ahnung davon bekommen, dass es um das Abschiednehmen geht. Vielleicht braucht es etwas mehr Lebenserfahrung, als ich sie habe, um sich „Raubfischen“ wirklich erschließen zu können.

Lieblingshörbuch

Der Anschlag - Stephen King, David Nathan

Habt Ihr Euch je gefragt, wie unsere Welt heute wohl aussähe, wenn es den 11. September 2001 nicht gegeben hätte? Und mal angenommen, es gäbe eine Möglichkeit, die Ereignisse dieses Tages zu verhindern, würdet Ihr es tun?

Der 22. November 1963 war für die Generation unserer Eltern und Großeltern ein Datum mit Ereignissen ähnlichen Ausmaßes. An diesem Tag fielen in Dallas drei Schüsse und töteten den amerikanischen Präsidenten und Hoffnungsträger John F. Kennedy. Aber wäre unsere Welt ohne diesen Anschlag tatsächlich eine bessere? Hätte es den 11. September 2001 am Ende vielleicht gar nicht gegeben?

 

In „Der Anschlag“ wagt Stephen King dieses gedankliche Experiment. Das Buch ist ein meisterhafter Genre-Mix, der Spannung, Action und großen Gefühlen gleichermaßen bietet.

 

Bewertung: ♥♥♥♥♥ Lieblingshörbuch!

 

Worum geht es?

Durch ein Zeitportal im Foodtruck seines Freundes reist der 35jährige Englischlehrer Jake Epping zurück in das Jahr 1958, um das Attentat auf John F. Kennedy zu verhindern. Die 5 Jahre bis zum Anschlag überbrückt er möglichst unauffällig als Highschool-Lehrer in einer Kleinstadt. Dann jedoch verliebt er sich in die Schulbibliothekarin Sadie Dunn. Wohlweislich, dass er damit allen Regeln der Zeit widerspricht, lässt sich Jake auf eine Beziehung ein.

Aber er hat noch ein ganz anderes Problem: die Zeit ist nämlich „halsstarrig“ und versucht mit aller Macht sein Vorhaben zu verhindern. Je näher er sich auf das Jahr 1963 zubewegt, umso häufiger und dramatischer werden die Schwierigkeiten und Unfälle, die ihm widerfahren, bis schließlich auch Sadie ernsthaft in Gefahr gerät.

 

Warum habe ich gehört?

„Der Anschlag“ von Stephen King steht schon seit ein paar Jahren auf meiner Wunschliste. Nach seinem Erscheinen konnte ich viele positive Rezensionen und Kritiken dazu lesen. Auch eine Kollegin, die es vor gut 1,5 Jahren las, war begeistert. Irgendwie schreckte mich dann aber doch immer die gewaltige Länge von mehr als 1.000 Seiten ab. Durch die häufigen und langen Bahnstreiks im Mai musste ich nun aber viel Auto fahren und nutzte die Zeit im Stau für das ungekürzte Hörbuch.

 

Wie war mein erster Eindruck?

Stephen King lässt sich in „Der Anschlag“ viel Zeit, um die Geschichte ordentlich aufzu­bauen.

So lernt der Zuhörer Ich-Erzähler Jake zunächst ausführlich kennen. Hierbei beweist Stephen King wieder einmal viel Fingerspitzengefühl und Liebe zum Detail. Jake spricht zunächst über seine gescheiterte Ehe mit einer Alkoholikerin. Für den weiteren Verlauf der Geschichte hat diese Vergangenheit zwar keine Bedeutung; man gewinnt jedoch eine klare Vorstellung davon, was für ein Typ Mensch Jake eigentlich ist. Auch machte mir dieses Eingeständnis des eigenen Scheiterns Jake gleich sympathisch.

Anschließend folgt eine lange Episode, in der Jake sich mit dem Portal und der Vergangenheit vertraut macht. In seinen ersten Reisen zurück nach 1958 sieht er sich lediglich um und ver­sucht später kleinere Unfälle und eine Tragödie in der Familie des Schulhausmeisters zu ver­hindern, bevor er sich am Weltgeschehen versucht. All das ist spannend und packend geschrieben. Trotzdem kam bei irgendwann die Frage auf, was dies denn nun mit JFK zu tun habe und wann es endlich „richtig“ losging. Im Nachhinein betrachtet muss ich aber zugeben, dass diese „Vorgeschichten“ notwendig waren, um dem Zuhörer die Regeln zu vermitteln, nach denen die Zeitreisen in „Der Anschlag“ funktionieren.

Auch was den geschichtlichen Hintergrund angeht, wird der Zuhörer geschickt „abgeholt“. So war es mir, die ich einige Jahrzehnte nach dem Mord an John F. Kennedy geboren wurde, möglich, die Geschehnisse nachzuvollziehen und gesicherte Fakten von bloßen Vermutungen und nahezu sicheren Annahmen zu unterscheiden.

 

Wie fand ich die Charaktere?

In „Der Anschlag“ wimmelt es von liebevoll gestalteten Charakteren. Nicht nur Haupt­protagonist Jake Epping konnte ich deutlich vor meinem geistigen Auge sehen. Auch Lee Oswald, Sadie Dunn und selbst die Nebenfiguren sind so individuell und detailreich gezeichnet, dass ich schnell das Gefühl bekam, sie alle selbst zu kennen.

Besonders beeindruckt hat mich das große Wissen über Lee Oswald, dass Stephen King für diesen Roman zusammentrug. Selten war eine seiner Geschichten so stark in der Realität verankert und damit nachprüfbar wie in „Der Anschlag“. Doch Stephen King hat gründlich recherchiert und präsentiert dem Zuhörer ein genaues Bild von Oswalds Leben sowie seinem familiären und gesellschaftlichen Umfeld. Man erlebt einen aggressiv-gewalttätigen Oswald, der sich nur allzu leicht beeinflussen lässt und sich zunehmend in immer abstrusere politische Ideen verrennt, während er im privaten Leben und seiner Ehe scheitert. So versteht man zwar nicht die Tat, aber zumindest die Triebfedern des Attentäters etwas besser.

 

Etwas schade fand ich hingegen, dass es in „Der Anschlag“ nur wenige weibliche Figuren gibt. Sadie Dunn ist die einzige weibliche Protagonistin. Sie wird als für ihre Zeit relativ emanzipiert, selbstbewusst und stark dargestellt und bietet damit den weiblichen Zuhörern gute Identifikationsmöglichkeiten.

 

Wie fand ich das Hörbuch insgesamt?

In „Der Anschlag“ verbindet Stephen King geschickt ein Stück der jüngeren amerikanischen Geschichte mit einer komplexen fiktiven Handlung. Das Ergebnis ist mehr als ein reiner Zeitreiseroman. (Über weite Strecken war ich mir beim Zuhören gar nicht mehr bewusst, dass Jake aus der Zukunft stammt.) Anders als in den Werken, mit denen Stephen King bekannt wurde, lauert das Grauen in „Der Anschlag“ nicht in Gestalt von schaurigen Clowns oder untoten Haustieren, sondern schleicht sich sehr viel subtiler in den Alltag der Menschen. Es sind die kleinen und großen Dramen des Lebens aber auch die menschlichen Abgründe, von denen „Der Anschlag“ handelt. So wird das Hörbuch zum spannenden Thriller gepaart mit einer zarten Liebesgeschichte und jeder Menge Action.

Aber „Der Anschlag“ ist auch eine Hommage an das Amerika aus Stephen Kings Kindheit und Jugend: die Zeit der großen amerikanischen Straßenkreuzer und Highschool-Bälle. Dabei wird jedoch nicht romantisiert. Auch die Kubakrise und vor allem die damit verbundenen Ängste der amerikanischen Bevölkerung vor einem Atomkrieg werden eindrücklich thematisiert. So entsteht ein sehr vollständiges Bild des Amerikas jener Jahre.

 

Einmal mehr beweist Stephen King sein erzählerisches Können, in dem er alle diese viel­fältigen Elemente und Handlungsfäden nicht ohne eine gewisse Leichtigkeit zu einer ausge­wogenen Geschichte mit stetem Spannungsverlauf verwebt und konsequent zu Ende erzählt. Die fünf Jahre, die Jake überbrücken muss, um in der Vergangenheit an den Punkt zu gelangen, an dem Oswald den Anschlag plant, sind eine lange Zeit. Stephen King gestaltet sie durch eine Menge unvorhersehbarer Ereignisse abwechslungsreich, spannend und bisweilen romantisch. Dabei ist sein Sprachstil so natürlich, seine Erzählung so detailreich und die David Nathans Lesung so lebendig, dass das Hörbuch „Der Anschlag“ tatsächlich zum Kinofilm für die Ohren wird.

 

Kerstin-Scheuer.de

Flavia de Luce 6 - Tote Vögel singen nicht: Roman - Alan Bradley

Mit „Tote Vögel singen nicht“ beweist Alan Bradley einmal mehr, dass er für die Flavia de Luce-Reihe vollkommen zu Recht mit dem Dagger-Award ausgezeichnet wurde. Es ist ein besonderes Highlight innerhalb einer ohnehin schon großartigen Reihe. 

 

Alan Bradley erfüllt mir darin gleich zwei Wünsche:

Man erfährt endlich mehr über Herriette und ihren Tod im Himalaya.
Hauptfiguren sind zudem nicht länger statisch; sie entwickeln sich weiter. 

 

Mit diesem Buch wird die bislang recht lose Reihe nun tatsächlich in eine größere Rahmenhandlung eingebettet. Damit stellt Alan Bradley die Weichen auch für künftige Flavia de Luce-Romane vollkommen neu. 

 

Nach einem starken Einstieg und einer gewohnt kurzweiligen Handlung überraschen das blutige Ende und der originelle Cliffhanger. Ich bin nun so gespannt auf den 7. Band, dass ich ihn vermutlich auf Englisch werde lesen müssen, um schneller zu wissen, wie es nun weitergeht.

 

Die bereits im letzten Band begonnene Weiterentwicklung dieser Romanreihe ist sehr gelungen. Die größere Komplexität tut der Handlung gut und erhöht die Spannung; ein rundum gelungenes Buch. 

 

(Ausführliche Rezension: http://kerstin-scheuer.de/?p=3195)

Der Architekt des Sultans - Elif Shafak, Michaela Grabinger

Mit „Der Architekt des Sultans“ legt Elif Shafak eine beeindruckend ideen- und detailreiche literarische Chronik über die Blütezeit Istanbuls vor. Es ist ein atmosphärisch dichtes Buch über die Liebe zur Architektur und den außergewöhnlichen Schöpfergeist des einstigen Hofarchitekten Sinan. Geschickt und einfallsreich verknüpft Shafak geschichtliche Fakten mit literarischer Fiktion zu einem ebenso lehrreichen wie unterhaltsamen Roman.

 

Trotz kleiner Mängel im Spannungsaufbau und gewisser Längen schaffte es Shafak, mich zu bewegen. Und ist es nicht genau das, was gute Literatur letztendlich ausmacht?

 

(Ausführliche Rezension: http://kerstin-scheuer.de/?p=3161)

Das Schneemädchen - Eowyn Ivey

Selten wurden für Schnee und Eis schönere Wort gefunden, als es Eowyn Ivey tut. “Das Schneemädchen” zeigt die Schönheit der unberührten Wildnis Alaskas.

Es ist ein modernes Märchen für Erwachsene, das die Leserherzen durch einen zarten Hauch Magie dahinschmelzen lässt.

(Ausführliche Rezension: http://kerstin-scheuer.de/?p=3136)

Danke Katharina Thalbach hörenswert

Die Analphabetin, die rechnen konnte - Jonas Jonasson, Katharina Thalbach, Wibke Kuhn

Trotz eines positiven ersten Eindrucks konnte mich “Die Analphabetin, die rechnen konnte” von Jonas Jonsson insgesamt nicht überzeugen. Nach dem ersten Drittel gleitet es mir doch zu sehr in puren Klamauk mit hanebüchener Handlung hab. Mir fehlte der feinsinnige, intelligente Humor von “Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand”.

 

Einziger Lichtblick des Hörbuchs ist Katharina Thalbach, die ausgezeichnet liest.

 

(Ausführliche Rezension: http://kerstin-scheuer.de/?p=3126)

Weiß Ich, Wann Es Liebe Ist: Roman - Auður Ava Ólafsdóttir

“Weiß ich, wann es Liebe ist?” ist ein kluger und sehr ruhiger Roman über Trauer, Liebe, Verlangen und Selbstzweifel, der diese großen Gefühle jedoch nicht plakativ herausschreit.

 

Audur Ava Ólafsdóttir erzählt in einem ruhigen, feingliedrigen Fluss, der den Leser sanft davon trägt. Obwohl der Roman alles andere als trivial ist und immer wieder eigenständige Schlussfolgerungen erfordert, konnte ich bei seiner Lektüre so gut abschalten, als säße ich selbst in jenem Rosengarten des Klosters, in dem “Weiß ich, wann es Liebe ist?” spielt. 

 

Es ist ein Buch, indem ich mich gut fallen lassen und komplett versinken konnte. 

 

(Ausführliche Rezension: http://kerstin-scheuer.de/?p=3078)

Ich lese gerade

Tintenblut (Tintenwelt, #2)
Cornelia Funke