Märzgefallene - Volker Kutscher

Gut recherchierte Bücher über die deutsche NS-Vergangenheit gibt es genauso viele wie handwerklich solide gearbeitete Kriminalromane. Meistens sind erster zwar sehr lehrreich und anspruchsvoll aber nur mäßig unterhaltsam. Letzter sind dagegen meist sehr spannend, aber in der Regel leider auch eher trivial. Die Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher vereint aus beidem das Beste, nämlich Anspruch und spannende Unterhaltung.

Im aktuellen fünften Band wartet auf Kriminalkommissar Gereon Rath nicht nur wieder eine neue Mordreihe, die ihn diesmal zurück ins Kriegsjahr 1917 führt. Auch der dramatische politische Umbruch des Jahres 1933 macht Charly und ihm beruflich wie privat zu schaffen.

Worum geht es?

Rosenmontag 1933. Als gebürtiger Rheinländer verbringt Gereon Rath die tollen Tage natürlich in der alten Heimat, wo er sich volltrunken einen außerehelichen Fehltritt erlaubt. Viel Zeit für ein schlechtes Gewissen bleibt ihm jedoch nicht, denn dann brennt in Berlin plötzlich der Reichstag, und Rath wird sofort zurück beordert. Allgemeine Urlaubssperre.

Etwa zur gleichen Zeit wird am Nollendorfplatz ein Obdachloser erstochen aufgefunden. Gereon Rath erbt diesen Fall von seinen Vorgesetzten Wilhelm Böhm, der beim neuen Nazi-Polizeipräsident in Ungnade gefallen ist und strafversetzt wird. Schnell geschehen weitere Morde nach dem gleichen Muster. Zum Glück gibt Leutant a.D. Achim von Roddeck wichtige Hinweise: Die Spur führt weit zurück in die Wirren des ersten Weltkriegs, als im März 1917 einige Soldaten der „Operation Alberich“, die beim Rückzug der deutschen Armee aus Frankreich nichts als verbrannte Erde zurückließen, die Goldreserven einer französischen Bank unterschlugen. Aber wie glaubhaft ist Achim von Roddeck wirklich? Geht es ihm am Ende vielleicht nur darum, sich wichtig zu machen, um seinen in Kürze erscheinenden Roman „Märzgefallene“, der von genau diesen Ereignissen berichtet, zu bewerben?

Die Ermittlungen gestalten sich für Gereon Rath äußert schwierig, denn ständig funkt ihm etwas anderes dazwischen: da wären zum einen die Hochzeitsvorbereitungen und zum anderen seine Abordnung zur Politischen Polizei, für die er Kommunisten zum Reichstagsbrand verhören soll. Zu allem Überfluss beauftragt Gangsterboss Johann Marlow Rath schließlich auch noch, einen Bandchef aus den Klauen der SA zu befreien. Und auch der Polizeipräsident macht Druck und will endlich Ergebnisse sehen.

Warum habe ich es gelesen?

MärzgefalleneSeit Gereon Raths erstem Fall „Der nasse Fisch“ verfolge ich diese Krimiserie von Volker Kutscher. Die tolle Kombination aus historischen Tatsachen und fiktiver Kriminalgeschichte begeisterte mich sofort. Auf diesen fünften Fall habe ich mich vor allem deshalb besonders gefreut, weil „wir“ nun endlich im Jahr 1933 und damit bei der Machtergreifung Hitlers angekommen sind. Ich war schon sehr gespannt, wie die einzelnen Charaktere, die ich in den ersten vier Bänden bereits gut kennenlernen konnte, auf diese politischen Entwicklungen reagieren würden. Bei einigen Figuren zeichnete sich bereits im Vorfeld ab, dass sie zumindest ihre Probleme mit der Anpassung an die neuen Verhältnisse haben würden. Umso neugieriger war ich daher, ob und wie ihnen dies gelingen würde.

Wie war mein erster Eindruck?

Das Buch ist in drei Teile unterteilt, die jeweils einen bestimmten Zeitabschnitt umfassen. Neu ist jedoch, dass die Abschnitte nun Überschriften haben: „Feuer“, „Rauch“ und „Asche“. Zudem ist jedem Teil ein Auszug aus einem Konversationslexikon vorangestellt, in dem der entsprechende Begriff beschrieben wird. Dies und der metaphorische Bezug zum jeweiligen Inhalt gefielen mir gut.

Mit dem Fund der ersten Leiche und Gereon Raths One Night Stand geht es inhaltlich gleich spannend los. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, vollkommen unvermittelt in den Fall geworfen zu werden. Wie gewohnt lässt sich Volker Kutscher Zeit, um die Geschichte solide zu entwerfen und zunächst einmal die Stimmung jener Tage einzufangen. Hierdurch entsteht beim Leser ein atmosphärisch dichtes Bild.

Am besten gefiel mir jedoch, wie geschickt Volker Kutscher den Brand des Berliner Reichstags gleich zu Beginn verarbeitet. Hierzu bedient er sich der Figur des Journalisten Weinert, der treuen Lesern bereits aus den vorherigen Bänden bekannt ist und zufällig als einer der ersten vor Ort ist. Aber auch Charly kommt hierzu zu Wort. Dieses historische Ereignis, über das man sonst nur relativ nüchtern in Geschichtsbüchern liest, quasi aus erster Hand von bereits bekannten und vertrauten Figuren erzählt zu bekommen, machte es für mich wesentlich anschaulicher. Ich bin froh, dass es ihm mehr als nur den Zeitungsartikel dazu wert war, den Gereon Rath hierüber am nächsten Morgen in Köln liest.

Wie fand ich die Erzählweise?

Der Roman ist wie von der Serie gewohnt in der dritten Person verfasst. Der Erzähler ist dennoch weder neutral noch gibt er einen objektiven Überblick über das Geschehen, sondern nimmt in jedem Kapitel den Standpunkt einer anderen Figur ein. So erhält man Einblick in verschiedene Gefühlswelten, lernt unterschiedliche Absichten und Ziele kennen. Dieser Wissensvorsprung des Lesers gegenüber den einzelnen Handelnden erhöht schließlich zur Spannung.

Aber auch der geschickte Wechsel der Erzählperspektiven erzeugt Spannung. Häufig endet ein Kapitel mit einem Höhepunkt, der nicht sofort im darauffolgenden aufgelöst wird. Stattdessen greift Volker Kutscher einen anderen Handlungsstrang wieder auf und erzählt zunächst diesen weiter. So entstehen immer wieder kleine Cliffhanger, die es mir schwer machten, das Buch lange Zeit aus der Hand zu legen.

Mir gefällt diese Art des Erzählens gut; auch wenn es bisweilen anstrengend ist. Sie erfordert eine gute Aufmerksamkeit, um bei den vielen Perspektivenwechseln und mehreren Handlungssträngen nicht den Überblick zu verlieren. Durch die vielen Nebencharaktere und –handlungen fiel mir dies bei „Märzgefallene“ bisweilen etwas schwer.

Wie fand ich den Schluss?

Volker Kutscher konstruiert in „Märzgefallene“ einen komplexen Kriminalfall mit vielen Verwicklungen und einer brisanten Vorgeschichte. Dennoch werden am Schluss sämtliche Fäden entwirrt und es bleiben keine Fragen offen. Kutscher schafft es sogar noch, mit einer neuen Wendung zu überraschen, was mir sehr gefiel.

Nur was das Privatleben von Gereon und Charly betrifft war mir das Ende dann doch etwas zu perfekt und klischeehaft geraten. Vor allem Charlys Zukunftsaussichten, die sich gegen Ende des Buches abzeichnen, gefielen mir gar nicht.

Wie fand ich das Buch insgesamt?

Märzgefallene CoverMit „Märzgefallene“ gelingt Volker Kutscher wieder ein spannender und komplexer Kriminalroman vor dem Hintergrund eines wichtigen Stücks deutscher Geschichte.

Geschick verknüpft er historische Tatsachen wie z.B. den Brand des Deutschen Reichstags oder die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz mit einer fiktiven Mordserie. Dass die Spur diesmal auch noch in das Kriegsjahr 1917 zurückführt, fügt dem Roman eine weitere spannende historischer Ebene hinzu. Dabei stellt „Märzgefallene“ u.a. auch sehr gekonnt dar, wie gegenwärtig der Schrecken und die Folgen des Krieges nach 15 Jahren in der deutschen Bevölkerung noch immer sind.

Die eigentliche Stärke von „Märzgefallene“ liegt für mich jedoch in der anschaulichen Darstellung, was die Machtergreifung der Nazis einerseits für die Arbeit der (Berliner) Polizei sowie andererseits für die einzelnen Charaktere dieser Buchreihe persönlich bedeutete.

So wird auch Gereon Rath kurzfristig zur Politischen Polizei abgeordnet, wo er Kommunisten verhören soll, denen im Zusammenhang mit dem Feuer im Reichstag Brandstiftung vorgeworfen wird. Dabei wird selbst dem politisch uninteressierten Kommissar schnell klar, dass es sich hierbei um eine bloße Schikane handelt, um möglichst viele bekannte Kommunisten an der anstehenden Wahl zu hindern. Auch als einmittlerweile konvertierter Jude als Mörder unter Tatverdacht gerät, nimmt der neue NSDAP-Polizeipräsident dies dankbar zum Anlass, um die allgemeine Judenhetze weiter anzufeuern.

Da wundert es kaum, dass Gereon Rath mit seinen Ermittlungen zeitweise auf der Stelle zu treten scheint. Teilweise tritt der Kriminalfall in „Märzgefallene“ sogar vollkommen in den Hintergrund. Dies verzieh ich Volker Kutscher jedoch gerne. Viel zu interessant und spannend sind alle die persönlichen Reaktionen, Einschätzungen und zum Teil auch unerwarteten Folgen, die sich für die einzelnen Charaktere durch den dramatischen politischen Umbruch ergeben.

So erlebt man den Wandel der Polizeiarbeit in Nazi-Deutschland und die verschiedenen persönlichen Konsequenzen, die daraus gezogen werden, auf eine sehr kurzweilige und unterhaltsame Art. Angenehmer Weise wird in „Märzgefallene“ weder der moralische Zeigefinger erhoben noch hat man das Gefühl, an ein allzu belehrendes Geschichtsbuch geraten zu sein.

Volker Kutscher überlässt es dem Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen (oder auch nicht), was mir sehr zusagt. So beweist Volker Kutscher mit „Märzgefallene“ wieder einmal, dass auch anspruchsvollere Kriminalromane möglich sind und Erfolg haben können.